Ein Bericht vom Freiwilligenfestival 2006 in der Ukraine
Im Laufe des ersten Tages, Mittwoch, kamen die Teilnehmer des Euridea-Festivals in Kiew an. Die meisten waren mit dem Zug gekommen, die Teilnehmer von Moldawien mit dem Bus. Sie wurden vom Vorbereitungsteam in der Stadt abgeholt, und zu der ein wenig außerhalb von Kiew gelegenen Unterkunft gebracht.
Der Veranstaltungsort war ein ehemaliges Kur-Gelände, das den Beinahmen „Die Lunge von Kiew“ hat. Da es eine halbe Stunde von der Stadt entfernt lag, war die Gegend sehr ruhig und das Gelände war groß genug, so dass die meisten Workshops im Freien stattfinden konnten.
Der erste Tag wurde mit dem gegenseitigen Kennenlernen verbracht, verschiedene Spiele dienten dazu, dass sich die Teilnehmer gegenseitig beschnuppern konnten und sich neue Freundschaften anbahnen konnten. Besonders herzlich waren natürlich die Wieder-Begegnungen von Teilnehmern, die sich bereits früher einmal bei einem internationalen Austausch kennen gelernt hatten. Der erste Veranstaltungstag endete ziemlich früh, da viele Teilnehmer von der langen Fahrt erschöpft waren, und besonders die Teilnehmer aus Sibirien neben fünf Tage Zugfahrt auch noch sechs Stunden Zeitverschiebung verdauen mussten. Darüber hinaus wollten auch alle am nächsten Morgen möglichst fit sein, wenn das Festival endlich richtig losgehen sollte.
Am Donnerstag trafen sich die Teilnehmer um neun Uhr morgens in der Kantine des Sanatoriums, wo das Frühstück serviert wurde. Eine neue Erfahrung war dabei, dass man in der Ukraine Reis und Buletten zum Frühstück isst – und das fast jeden Tag.
Nach dem Frühstück wurde das Euridea-Festival in seiner Konzeption von den Organisatoren von New Group vorgestellt. Dabei wurde die Geschichte des Festivals und seine Entwicklung vorgetragen, und betont, dass bei diesem Festival die Teilnehmer die Verantwortlichen für das Gelingen sind. Dies war aber keine große Neuigkeit und alle Teilnehmer hatten in kleinen Gruppen verschiedene Workshops vorbereitet. Auch die Erwartungen und auch Befürchtungen der Teilnehmer für das Festival wurden besprochen.
Nach dieser kurzen Einführung, fanden nochmals Aktionen zum besseren Kennenlernen statt, da dieses die Grundvoraussetzung für das Gelingen des Festivals war, und die beste Möglichkeit die gegenseitige Angst voreinander zu nehmen und die Bildung von nationalen Grüppchen zu verhindern. Hierfür bildeten die Teilnehmer Zweierpärchen, wobei darauf geachtet wurde, dass die Beiden sich vorher nicht kannten. Jeder Teilnehmer fertigte eine kurze Präsentation seines Partners an, wobei diese Präsentation aber gemalt wurde. Anschließend trugen die Pärchen die Präsentationen vor. Das Publikum stellte dazu Fragen, und am Schluss hatte man das Gefühl, die Anderen schon ein bisschen zu kennen.
Den restlichen Vormittag nutzte Manuel, der Repräsentant des SCI Schweiz für eine Vorstellung des SCI im Allgemeinen. Mit Hilfe von Fotos erklärte er die Geschichte des SCI von seiner Gründung an, und welche Motive der Verein im Laufe seiner Geschichte verfolgte. Dabei zeigte sich, dass der SCI seine Interessensfelder immer weiter entwickelte, beginnend mit der Idee der gegenseitigen Zusammenarbeit als
Hauptfaktor der Friedensarbeit traten im Laufe der Geschichte auch Themen wie Ökologie und Nachhaltigkeit, die Nord-Süd- und Ost-West-Beziehungen und andere auf die Agenda. Darüber hinaus wurde die internationale und nationale Struktur des SCI am Beispiel der Schweiz erklärt und abschließend ein Film über schweizerische Workcamps gezeigt.
Diese Vorstellung war sehr spannend, denn obwohl die Teilnehmer des Festivals alle SCI-Mitglieder waren, waren viele mit der Geschichte noch nicht so sehr vertraut, und besonders die internationale Struktur war Vielen neu.
Nach dem Mittagessen starteten die ersten Teilnehmer-Workshops. Für diesen Nachmittag waren ein Workshop zur Nachhaltigen Entwicklung und ein Workshop zu Stereotypen und Vorurteilen angesetzt. Ziel des Workshops zur Nachhaltigen Entwicklung war es, die Dimensionen und die Bedeutung von Nachhaltigkeit kennen zu lernen, die Verbindung von Menschrechten und Nachhaltigkeit zu erörtern und
eigene Möglichkeiten umweltgerecht zu handeln zu entwickeln. Beim Workshop zu Stereotypen und Vorurteilen sollten die Probleme und Gefahren von Stereotypen ermittelt werden und den Teilnehmern gezeigt werden, wie leicht es ist, sich von diesen leiten zu lassen. Beide Workshops fanden große Zustimmung und mussten um eine Stunde verlängert werden, da die angesetzten zwei Stunden gar nicht ausreichten, um der Diskussionsfreude gerecht zu werden.
Nach den Workshops gingen die Teilnehmer daran, den internationalen Abend vorzubereiten. Auf Tischen wurde nationale Spezialitäten, Leckereien und Getränke präsentiert, auf selbst gemalten Postern wurden einige Charakteristika der Länder gezeigt und natürlich die nationalen SCI-Gruppen und Aufgaben vorgestellt. Die größte Freude erzeugten dabei die Gesangseinlagen, besonders die Jodeleinlagen aus
der Schweiz. Der Spaß dabei war so groß, dass am letzten Abend am Lagerfeuer ein spontaner Jodelworkshop organisiert wurde, und ein Wettjodeln stattfand.
Nach dem alles aufgegessen und ausgetrunken war, wurde der Abend in einer großen Singgruppe fortgeführt. Da eine Gitarre und mehrere Spieler vorhanden waren, kam keine Langeweile auf und mit russischen, englischen und deutschen Liedern vergnügten sich alle bis in die frühen Morgenstunden.
Trotz der langen Nacht waren Freitag morgens um neun alle wieder auf den Beinen und bereit für die Workshops „Menschrechte und Frauenrechte“ und „Improvisationstheater“. Beim ersten Workshop ging es hauptsächlich darum, die Formen von Diskriminierung von Frauen in den Ländern der Teilnehmer zu
diskutieren und ihre Ursachen zu ergründen. Dabei wurde festgestellt, dass die Frauen in den Ländern der Teilnehmer hauptsächlich deswegen diskriminiert werden, weil sie Kinder bekommen, obwohl sie doch somit den Fortbestand der Gesellschaft sichern.
Anschließend wurde nach Möglichkeiten gesucht, die Diskriminierung von Frauen zu verringern. Dabei gab es einen Disput, ob man Frauen mit besonderen Regelungen und Anreizen für Arbeitgeber fördern sollte, oder ob dies nicht auch eine frauenfeindliche Diskriminierung sei und der einzige Weg eine allgemeine Änderung des gesellschaftlichen Bewusstsein zur Rolle der Frau sei. Einigen konnten sich die
Teilnehmer darauf, dass es keine gesondert formulierten Grundrechte der Frauen geben kann, da die Grundrechte der Frauen gleich den allgemeinen Menschrechten sind und eine getrennte Formulierung nicht nur völlig widersinnig sondern auch diskriminierend in höchstem Maße wäre.
Beim Workshop „Impro-Theater“ wurde durch Spiele das gegenseitige Vertrauen der Teilnehmer gestärkt und anschließend spielerisch kleine Szenen entwickelt. Im Anschluss an die Workshops wurde noch ein Film über den SCI in Deutschland gezeigt, bevor man zum gemeinsamen Mittagessen ging.
Nachmittags gab es wieder zwei Workshops, zum einen wurde das Thema Atomenergie im Hinblick auf die Katastrophe von Tschernobyl diskutiert, der andere Workshop präsentierte sich als Spiel namens „Limit of 20“. Beim Workshop zum Thema Atomenergie wurde die weltweite Bedeutung von Atomenergie erläutert, und der Umgang und die Auswirkungen der Tschernobyl-Katastrophe. Die Teilnehmer
stellten fest, dass die Auswirkungen dieser 20 Jahre zurückliegenden Katastrophe immer noch stark zu spüren sind, und das die Opfer nur minimal oder gar nicht entschädigt wurden. Weiterhin fiel auf, dass der Umgang mit Atomenergie sich durch die Katastrophe kaum geändert hat, und ökonomische und politische Gründe, die für Atomenergie sprechen, weiterhin dominieren. Bei einem abschließenden Spiel
nahmen die Teilnehmer verschiedene Rollen mit einer bestimmten Einstellung zu Atomenergie ein: der Kraftwerksbesitzer, die Mutter mit dem behinderten Kind, einen Politiker, der Atomenergie unterstützt und ähnliche, und versuchten sich gegenseitig für oder gegen Atomenergie zu überzeugen.
Das Spiel „Limit of 20“ entpuppte sich dagegen als Wolf im Schafspelz, denn das Spiel stellte nur ein Mittel zu einem tieferen Zweck dar. Die Teilnehmer teilten sich in drei Gruppen und mussten verschiedene Aufgaben erfüllen, für die sie von der Jury Punkte erhielten. Ziel des Spiels war es, möglichst schnell 20 Punkte zu erreichen.
Die Jury bewertete aber nicht gerecht, sondern diskriminierte systematisch eine Gruppe, während eine andere immer bevorzugt wurde. Ziel war es, das Verhalten der Teilnehmer zueinander festzustellen. So verbündete sich beispielsweise die mittlere mit der schlechten Gruppe und sie gingen in einen Sitzstreik gegen die ungerechte Jury. Die Siegergruppe dagegen betonte die Fairness der Jury und bezeichnete die
anderen Gruppen als schlechte Verlierer. Am Schluss wurde alles aufgeklärt und die Teilnehmer erkannten, wie leicht es ist, Schwächere ungerecht zu behandeln, selbst wenn man sieht, dass es nicht fair ist.
Der Abend war frei, und alle Teilnehmer nutzten die Gelegenheit, um sich die Stadt Kiew schon mal vor der Stadtführung am Sonntag anzuschauen. Am späten Abend zurückgekehrt, fand sich noch eine Gruppe, die auf dem Balkon die Erlebnisse des Festivals austauschten und sich von den Erfahrungen in ihren Ländern erzählten. Die Mutigsten unter ihnen versuchten sogar die Nacht draußen zu verbringen, aber nur
drei hielten es wirklich durch.
Samstags Vormittag fanden Workshops zum Thema „Flüchtlinge“ und „Interkulturelle und Nonverbale Kommunikation“ statt. Im ersten Workshop wurde darüber gesprochen, wie genau der Begriff beziehungsweise Status eines Flüchtlings definiert ist, und warum es so schwierig ist, diesen Status zu bekommen. Weiterhin wurde darüber diskutiert, wie die weltweiten Probleme in Zusammenhang mit
Flüchtlingen zu lösen wäre. Als nachhaltige Lösung bot sich eine Welt ohne Flüchtlinge an, in der niemand mehr zur Flucht gezwungen ist. Dies ist aber nur durch die Verbesserung von ökonomischen, politischen und sozialen Bedingungen möglich, was nur über eine lange Zeit zu erreichen ist. Im Workshop „Interkulturelle und Nonverbale Kommunikation“ wurden verschiedene Kommunikationsprobleme
zwischen verschiedenen Kulturen erörtert, wobei sich herausstellte, dass man nicht weit reisen muss, um unterschiedliche Kommunikationsmuster zu finden. Als Lösungswege für Kommunikationsprobleme wurde ein gegenseitige Offenheit und aufmerksames Zuhören, ohne vorgebildete Meinung gefunden. Auch wurden verschiedene Nonverbale, und manchmal allgemeinverständliche Kommunikationsmittel gefunden, zum Beispiel Kommunikation mittels Kunst.
Nach diesen Workshops spielten wir noch einige Bewegungsspiele und Vertrauensübungen, wie sie teilweise schon aus dem „Impro-Theater“ Workshop bekannt waren. Auch ein Workshop zum Thema Konfliktlösung fand während dieser Zeit statt. Nach Essen startete dann das „Big Game“ welches New Group aus Belarus vorbereitet hatte. Für dieses Spiel hatten sie den Hof und das Haus mit weißen
Papierwolken ausgelegt, die eine Kette mit einem Abstand von ungefähr einem Meter bildeten. Alle Teilnehmer sollten sich an die Hand nehmen und die Wolken-Ketten entlanglaufen. Dabei mussten immer beide Füße auf den Wolken stehen, nichts anderes durfte berührt und die Kette nicht getrennt werden. Nach den ersten Versuchen, die immer nur fünf Wolken weit fürhten, wurde die Gruppe langsam
geübter und kam immer weiter. Doch immer wieder gab es Rückschläge und die Jury war erbarmungslos. Die Stimmung schwankte immer wieder zwischen „wir schaffen das schon“ und „es hat keinen Zweck“. Trotzdem verlor niemand lange den Mut und wir versuchten uns aufzuheitern, indem wir Worksongs, Kanons und Protestlieder sangen. Da die Gruppe sich immer besser aufeinander einstimmte und sich alle
gegenseitig halfen, konnten wir nach zwei Stunden endlich alle den Fuß auf die letzte Wolke setzen und lagen uns befreit in den Armen.
Nach dem Spiel wurde dann klar, dass der letzte Abend tatsächlich schon gekommen war. Zunächst ging es an die Evaluation des Festivals. Alle Teilnehmer waren sehr begeistert, Kritik ging hauptsächlich an das Essen und die Duschen, sowie an die Zeit, die ganz entschieden zu kurz war. Bei den Plänen für das nächste Mal einigte man sich auf drei Tage länger, gleich viele Teilnehmer aber aus noch mehr verschiedenen Ländern und einen rustikaleren Veranstaltungsort möglichst abgelegen im Grünen.
Beim letzten großen gemeinsamen Abendessen bemühte sich die Küche ganz besonders, und die moldawischen Teilnehmer tischten sogar selbst gemachten Mamaliga und Brinza, Maisbrei und Käse, und Wein auf. Danach gab der Tanz-Workshop von Luba aus Belarus, der jeden Tag vor dem Abendessen trainiert hatte, noch eine Vorstellung die alle mitriss, und die Trainerin lies es sich nicht nehmen,
selbst noch eine Show hinzulegen. Anschließend gingen alle gemeinsam an einen nahe gelegenen See und machten ein Lagerfeuer. Neben gemeinsamem Singen mit Gitarrenbegleitung kam es noch zum erwähnten Jodelworkshop und Wettbewerb, sowie zu einigen spontanen Theater-Improvisationen, was beides für gute Stimmung sorgte, die der allgemeinen Abschiedsdepression entgegenwirkte.
Die Organisatoren gingen dann um eins zurück, um alle Fotos der Teilnehmer zusammenzubringen und auf CDs zu kopieren. Nach der Arbeit um halb fünf Uhr morgens trafen sie dann auf die letzten Nachtschwärmer, die sogar noch den Mut für ein gemeinsames Bad im See aufgebracht hatten. Sonntags morgen ging es dann gemeinsam nach Kiew, und es wurde der Unabhängigkeitsplatz besucht, wo vor
anderthalb Jahren die Orangene Revolution stattfand, sowie Kirchen und Klöster und der Dnepr bestaunt. Im Laufe des Tages verabschiedeten sich die Teilnehmer dann nach und nach und stiegen in ihre Züge, mit der Hoffnung, dass sich alle nächstes Jahr wieder sehen werden.
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